2017

“Briefmarke“

Die Briefmarken aus der geheimen Sammlung ihres Großvaters betrachtet Stela Vula als politisch konnotierte Verkörperungen und zeitgenössische Artefakte, welche die visuelle Kultur der historischen totalitären und faschistischen Regime der Vergangenheit repräsentiert.

Ihre Sprache und Bedeutung, zusammen mit der Gestik und Mimik, mit den Farben und der Komposition geht mit der durch die Freiheitsentziehung konzipierten und produzierten Kunst einher. Durch die Strategien der Rahmensetzung und Grenzziehung bzw. die Einschränkung der freien künstlerischen Praktiken fungiert hier die Kunst als Propagandamittel für das Massenpublikum, welche die Aufgabe gehabt hat das „Gesicht“ des Volkes zu formen und die Gesellschaft zu der Weiterentwicklung des Systems zu motivieren.

Vektorisierte Briefmarken aus Albanien, China, Deutschland, Ungarn, Tschechoslowakei, Sowjetunion. Digitale SVG-Druckdatei auf Papier. Dimensionen: unterschiedlich, München 2016-2017

Die Arbeit mit dem Titel „Briefmarke“ bildet die Basis für ihre Auseinandersetzung mit der politischen Grenzziehung, der Ausgrenzung, der Isolierung und mit den dazugehörigen Individuums- und Gruppendynamiken im heutigen Kontext. Sie kontrastiert die ideologischen Hoffnungsbilder der Briefmarken gegenüber dem totalen Glauben der Menschen zu einem politischen System. Des Weiteren gestaltet sie die Briefmarken als Kirchenfenster mit dem Ziel Hoffnung und Furcht zu kontrastieren, in einem fast religiösen Verhältnis, um die Existenz ihrer Familie (dadurch auch ihre) aus einer absolutistischen dualistischen Perspektive zu behandeln.

Glasmalerei – Mosaik, Plexiglas, Kupferfolie, Blei, 1.5m x 0.96m, München 2017
Foto: Agnieszka Kaszubowska, München, 2022

Auf einer zweiten Ebene und aus einer biographischen Perspektive gesehen, bedeutet dies die Geschichte ihrer eigenen Familie, die Fakten, die Erzählungen und Erinnerungen als Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit ihren Traumata zu verwenden. Für Stela Vula stellt diese Auseinandersetzung die Erschließung des vererbten und gelernten Wertsystems dar, und aktivieren sie letztlich das Konstrukt ihrer Identität zu reflektieren und zu hinterfragen. Durch die Gegenübersetzung der Ideologiesymbole zu ihren entsprechenden gegenwärtigen Mediatisierungen der kapitalistischen Welt versteht sie die politischen Voraussetzungen eines Landes und seine geschichtlich gewordene Gegenwart. Sie erfährt dadurch den biologischen Evolutionswert, den individuellen und gesellschaftlichen Preis des kulturpolitischen Bewusstseins.

Die Frage lässt sich heute aber für Stela Vula anders formulieren: durch welche visuelle Sprache, welche Symbole und Semiotik, Kulturgüter, Naturlandschaften und so weiter werden im Kontext eines Weltmarkt-Imperiums die einzelnen Wertsysteme niedergewalzt und völlig unterschiedslos behandelt? Woraus besteht der kulturelle Gehalt, den sie mit sich bringen? Wie lassen sich heute vorgestellte Gemeinschaften als „kameradschaftlicher“ Verbund von Gleichen verstehen? Und noch mehr: Wie definieren wir dann die „Anderen“, die nicht „gleich“ sind?

Videoaufnahme vom interaktiven Computerspiel. Software, Licht, Sound, wireless game Controller.
Dimensionen: unterschiedlich, München 2017

Diese Fragen versucht Stela Vula durch die Spiel- und Netzwerktheorie zu beantworten. Mittels Computerspiele als Medium Systeme zu modellieren, kreiert sie neue fiktive Wertsysteme, unter denen sich reale Interaktionen entwickeln. Sie konzipiert die Spielwelt aus den Machtsymbolen und den mythologischen Repräsentationen der Briefmarkenabbildungen. Sie definiert Landschaften, Szenarien, Rollen, Regeln und Protagonisten, und fordert den Betrachter auf, durch den Controller die Rolle des Spielers zu übernehmen. Der Spieler muss mit den Symbolen als Träger, bzw. Ausdruck der politischen Systeme und Ideologien kämpfen, seinen freien Weg durch die Landschaft schaffen und in diesem Versuch neue mögliche Lösungs-Erfolg-Hybride generieren. Durch seine Handlungsfähigkeit und die gesteuerte Güterakkumulation erzielt seine vertraute Welt zu transzendieren.

Still vom interaktiven Computerspiel. Digitale SVG-Druckdatei auf Papier. Dimensionen: unterschiedlich, München 2017

Der Betrachter wird auf diese Weise als „Schachfigur“ Teil der performativen Installation und erfährt die von der Interaktion ausgehende zerstörerische Handlung als „Lebensverlust“ in einem Computerspiel-Level. Die einmal als Propagandasymbole der historischen politischen Systeme suggerieren dem Betrachter, in diesem Fall dem Spieler, das Implodieren dieser Zeichen, was durch die Spieler-Game-Interaktion als Geste der Zerstörung der Symbol-Ideologien verstanden werden muss.

Still vom interaktiven Computerspiel. Digitale SVG-Druckdatei auf Papier. Dimensionen: unterschiedlich, München 2017